Sonntag, 7. Oktober 2012

Stadtwanderweg 6 oder Das große Leiden




Der Samstag versprach ein wunderschöner Tag zu werden – wettermäßig. Ich zelebrierte das auf meine Weise, indem ich mich vor den Herd stellte und ein Szegediner Krautfleisch zauberte, dass jeder Szegediner mir dafür den Kochlöffel geküsst hätte. Was die Szegedinerinnen für einen Teller meiner Köstlichkeit getan hätten, bleibt an dieser Stelle – weil nicht ganz jugendfrei – unerwähnt.

Am frühen Nachmittag, wir waren gestärkt, eigentlich war ich durch übermäßige Stärkung eher geschwächt und mein Körper verlangte unmissverständlich nach einem Verdauungsschlaf, aber meine Frau kannte kein Erbarmen und schleppte uns Richtung Bahnhof. Von Liesing ging es nach Rodaun.

Da stand er nun, der Holzwegweiser. Groß, bedrohlich und zeigte unerbittlich auf einen Waldweg, dessen Steigung vermuten ließ, dass er direkt in den Himmel führte. Stadtwanderweg 6 war auf dem Wegweiser zu lesen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Eigentlich fehlte noch ein Warnhinweis.

Das Beschreiten dieses Wanderweges kann ihre Gesundheit gefährden, eine nachhaltige Wanderphobie auslösen, sie an den Rand des Suizids treiben oder einfach nur ihren Willen brechen und ins Meer der Resignation spülen.

Nichts dergleichen. Der Wegweiser, in seiner unschuldig anmutenden Bedrohlichkeit, ließ in mir sämtliche Alarmglocken schrillen. Na ja, eigentlich war es mein Handy, aber das hätte dramaturgisch nicht so gut gepasst. Der Weg war mir viel zu steil. Da musste es noch eine andere Möglichkeit geben. Und es gab sie. Zweihundert Meter weiter erstreckte sich einen Waldweg, der bretteleben uns Gehölz führte. Ja, genauso sollte es sein.

War es aber nicht lange. Der Weg wurde mit der Zeit immer schmäler, bis er zum Trampelpfad verkümmerte. Als ob das nicht schon genug wäre, führte er nun direkt einen Berg hinauf. Wo dieser so plötzlich daher kam, Gott allein weiß es. Die unfreiwillige Kletterpartie wurde durch mein für diesen Zweck ungeeignetes Schuhwerk, an und für sich sehr bequeme Sandalen, nicht gerade erleichtert. Die Steigung war teilweise so stark, dass man, selbst wenn man sich auf allen Vieren fortbewegte, sich noch in der Vertikalen befand.

Meine Tochter kletterte leichtfüßig, als Steinbock im Sternzeichen hatte sie einen nicht unerheblichen Vorteil, den Hang hinauf. Ich hatte es da ungleich schwerer. An manchen besonders exponierten Stellen spürte ich eine Hand auf meinem Allerwertesten. Nein, es handelte sich um keine sexuelle Belästigung meiner Frau, sondern ihren gut ausgeprägten Überlebenswillen. Sie versuchte, mich vorwärts zu schieben und zu verhindern, dass ich rückwärts, einer Lawine gleich den Hang runter rollte und alles – besonders sie – mit ins Verderben riss.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten wir einen bequemen, breiten Wanderweg. Das Schild zeigte uns, dass wir wieder angekommen waren – auf dem Stadtwanderweg 6. Dann gingen wir den, im wahrsten Sinne des Wortes, steinigen Weg hinauf und hinunter und wieder hinauf und so weiter. Die Sekunden formierten sich zu Minuten, diese wurden zu Stunden und der verdammte Weg nahm einfach kein Ende.

Als wir endlich in Breitenfurt wieder die Zivilisation erreichten und zur rettenden Autobushaltestelle taumelten, schickte sich die Sonne bereits an, sich am Horizont zu verabschieden. Wahrscheinlich hatte sie genug davon, so viel Leid mitansehen zu müssen.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen